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 Zeiten Bilder

Autoren: Barbara Klemm
Illustratoren: Barbara Klemm
Verlag: Schirmer/Mosel

Cover
Gesamt +++++
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis
Der gewichtige Band "Zeiten Bilder" - man könnte, wenn man müsste, einen Einbrecher damit locker in Schach halten und gegebenenfalls unschädlich machen -, versammelt 212 bekannte und weniger Fotografien aus den Jahren 1969 bis 2019. Zusammengestellt wurden die Fotografien von Barbara Klemm selbst.

Thematisch ist der Band in drei Schwerpunkte aufgeteilt: das zeitgeschichtliche Geschehen in Deutschland bis zur Wiedervereinigung, politische Ereignisse in Europa und der ganzen Welt sowie Eindrücke aus Ausstellungs- und Atelierbesuchen. Das Vorwort schrieb niemand Geringeres als der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert, der sich als literarisch versierter Kenner entpuppt, um das Werk von Barbara Klemm zu beschreiben.
In ihrem Nachwort gibt Barbara Catoir Einblicke in die Herangehensweise der Fotografin, ihren Stellenwert in der Reportage-Fotografie und wie sie es versteht, mit dem Licht zu "malen" und somit eigene Kunstwerke zu schaffen. Barbara Catoir war langjährige Mitarbeiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Weggefährtin und Freundin von Barbara Klemm.
Beide, Norbert Lammert und Barbara Catoir, bedienen sich in ihren Beiträgen der alten Schreibweise "Photographie". Und verbeugen sich damit vor der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie Barbara Klemms.

Handwerk trifft Zeitgeschichte und reicht der Kunst ihre Hand. So könnte man das Wirken der Fotografin Barbara Klemm zusammenfassen. Sie absolvierte zunächst eine klassische Fotografinnen-Ausbildung und arbeitete zehn Jahre im Fotolabor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bevor sie deren fotografisches Aushängeschild wurde. 35 Jahre, von 1970 bis 2005, hat Barbara Klemm für die FAZ Menschen - Prominente genauso wie die sogenannten kleinen Leute - und Ereignisse in aller Welt fotografisch festgehalten. Sie fotografierte stets analog. Und immer in Schwarz-Weiß. Der Königsdisziplin aussagestarker Bilddokumente. Natürlich ist es nicht die Technik allein, die zur Sogwirkung ihrer Arbeiten führt. Wer diese sympathische, bescheidene, aber auch selbstbewusste Frau einmal live erlebt hat, versteht, was die Anziehungskraft ihrer Bilder ausmacht: Geduld, Empathie, Respekt und das Wissen darum, was sie will, kann und worauf es ankommt. Und was ist mit der Kunst? "Wenn es gelingt, einen Bildaufbau hinzubekommen, wenn das Bild noch verdichtet wird zu einer Aussage, dann würde ich vielleicht schon von Kunst reden" (Zitat S. 8). Ihr ist dies sehr oft gelungen.

Im ersten Teil des Bandes wird anhand der zusammengestellten Bilder vor allem die Geschichte der alten Bundesrepublik von den Studentenprotesten der 1968er über die Ostverträge, die Entstehung der Ökologiebewegung und der Protestbewegung gegen Atomkraft und NATO-Doppelbeschluss bis hin zur Wiedervereinigung gezeigt. Darunter ikonografische Aufnahmen wie die Fotografien von Willy Brandt und Helmut Schmidt, die mit ernsten Gesichtern nebeneinander, aber voneinander abgewandt den Reden auf dem Parteitag 1973 in Hannover folgen. Oder das Treffen von Brandt und Breschnew, umringt von ihren Beratern. Heinrich Böll in Mutlangen. Dies sind Fotografien, die auch heute noch vielen Menschen präsent sein dürften. Weniger bekannt dürfte sein, dass Barbara Klemm in der ehemaligen DDR fotografierend unterwegs war und dort eindrückliche Porträts der im zweiten deutschen Staat agierenden Politiker fertigte. Bei ihren Reisen hinter die Mauer entstanden auch sehr intensive, berührende und beunruhigende Stillleben. Wie jenes Bild aus dem Jahre 1971, das auf grobkörnigem Fotopapier eine Grenzbefestigungsanlage in Ostberlin zeigt, die sich in der Tiefe im Nebel verliert. Kein Mensch, nirgends. Dieses Bild in seiner unbarmherzigen Leere lässt Schauer des Grauens über die Rücken der Betrachter laufen.

Im zweiten, internationalen Teil dokumentierte Barbara Klemm das Leben der Schönen und Reichen ebenso, wie sie kleine Kammerstücke schuf mit den sogenannten kleinen Leuten als Protagonisten. Ihre Tätigkeit für die FAZ führte sie nach Westeuropa und die Staaten des ehemaligen Ostblocks vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In den Nahen Osten nach Israel, in das Westjordanland, den Iran und den Irak. Nach Lateinamerika, Asien und Afrika. Und manche umwälzenden Ereignisse der 1970er-Jahre holt sie mit ihren Bildern aus den ein wenig verschütteten Archiven der Zeitgeschichte hervor. Dies geschieht oftmals indirekt. Wie beispielsweise durch ihre Fotografien aus dem Wahlkampf 1975 in Portugal und die Porträts des noch jungen Mario Soares und des bereits ergrauten KP-Chefs Álvaro Cunhal. Ein politisches Ereignis, das nur durch die ein Jahr zuvor stattgefundene Nelkenrevolution und das Ende des Salazarregimes möglich war. Und das eine große Welle der Hoffnung bei der europäischen Linken auslöste. Ältere Zeitgenossen mögen hinter der Fotografie, die Frau Klemm von der Begegnung des damaligen Außenministers Walter Scheel und seines italienischen Amtskollegen Aldo Moro auf der NATO-Konferenz 1972 in Bonn aufnahm, jenes Porträt Moros vor ihrem inneren Auge sehen, das die Roten Brigaden 1978 nach seiner Entführung an die Presse verschickten. Die Bilder aus Belfast Ende der 1980er-Jahre, also lange vor dem Karfreitagsabkommen 1998, das die seit den 1960er-Jahren Nordirland traumatisierenden Troubles beendete, lassen sicher auch jüngere Betrachter erahnen, was für die Republik Irland und Nordirland mit dem Brexit auf dem Spiel steht.

Im dritten Teil versteht man am besten, was Barbara Klemm mit ihrer weiter vorne zitierten Bemerkung zu Fotografie und Kunst meint. Denn hier, in diesen Bildern, bezieht die Fotografin den architektonischen Raum und die Besucher, Künstler und Restauratoren in ihre Bildekompositionen ein. Wie jenen jungen Besucher der Neuen Tretjakow-Galerie in Moskau, der 1993 seinen Blick auf etwas außerhalb der Fotografie richtet und aussieht, als sei er das Model zu einem der Gemälde im Hintergrund. Ganz bezaubernd auch die Fotografie der drei Kinder, die vor dem Bild "Der Tanz" von Matisse sitzen. Der kleine Junge streckt seine Hand zu dem Gemälde hin in einer Anmut, als wolle er sich dem Reigen der Tanzenden anschließen. Ganz anders das Bild von der Holocaust-Gedenkstätte in Berlin. Sie wird durch die von Frau Klemm gewählte Perspektive und die entstandene Tiefe und Geradlinigkeit zur Rampe von Auschwitz, an deren Ende der Entscheider über sofortigen Tod oder noch ein wenig Leben steht.

Der bei Schirmer/Mosel verlegte Bildband ist qualitativ hochwertig. Pro Seite wird eine Fotografie gezeigt, gelegentlich füllt ein Bild auch die Bandbreite einer Doppelseite aus. Die Untertitel sind knapp gehalten; die Fotografien sollen für sich sprechen. "Zeiten Bilder" ist eine Empfehlung für alle, für die Fotografie ein Kunst-Handwerk ist. Ein Kunst-Handwerk, das den Betrachter zu fesseln weiß, in einen Dialog mit ihm tritt, einen Standpunkt offenbart und dazu auffordert, einen eigenen zu entwickeln. Das Geschichten erzählt von dem, was das Leben ausmacht. In seinen schönen, traurigen, grausamen und auch betörend leichten Facetten.

Claudia Ricker



Hardcover | Erschienen: 15. Oktober 2019 | ISBN: 9783829608770 | Preis: 49,80 Euro | 288 Seiten | Sprache: Deutsch

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