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 Alice Herz-Sommer "Ein Garten Eden inmitten der Hölle"

Ein Jahrhundertleben


Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Alice und Marianne Herz kommen im November 1903 in Prag zur Welt. Ihr Vater produziert Waagen und Messgeräte und ist zu bescheidenem Wohlstand gekommen. Ihre Mutter leidet Zeit ihres Lebens darunter mit ihm "verheiratet" worden zu sein und hat eine pessimistische Lebenseinstellung. Von Geburt an bevorzugt sie die ihr ähnliche Marianne und missachtet Alice oft deutlich. Doch Alice ist Optimistin. Sie lässt sich nicht unterkriegen und kämpft mit der ihr eigenen unbändigen Energie gegen alles an, was ihr Glück gefährden könnte. Schon früh zieht es sie zur Musik hin und das Klavier wird ihre Bestimmung. Schon bald gilt sie als äußerst fleißige und ungewöhnlich begabte Pianistin. Ihre Schwester und ihre ersten Lehrer begeistert ihr Wille zur Vollkommenheit und ihre positive Geisteshaltung. Hindernisse gibt es für Alice nicht.
Noch zu jung, um auf das Werben eines dreiunddreißigjährigen Verehrers einzugehen, sieht sie die große Liebe ihres Lebens in die Arme einer anderen Frau flüchten. Wieder ist es die Musik, die ihr Kraft gibt. Erst als sie Leopold Sommer kennen lernt, vergisst sie die Enttäuschungen der Vergangenheit und heiratet ihn. Das Glück ist vollkommen, als ihr Sohn Stephan geboren wird. Inzwischen ist Alice eine auch im Ausland gefeierte Pianistin und durch Lehrtätigkeit kann sie das Familieneinkommen aufstocken. Tägliches, stundenlanges Üben und großartige Konzerte machen ihr aber immer wieder klar, dass ihr Lebensinhalt von der Musik bestimmt wird.
Ihre Schwester und fast die gesamte Familie verlässt nach dem Einmarsch der Nazis Prag und emigriert nach Israel. Nur Alice? kranke Mutter, sie selbst, Leopold und Stephan bleiben in Prag. Sie hoffen auf bessere Zeiten. Doch nachdem ihre Mutter nach Theresienstadt abtransportiert wird und immer mehr Juden ihrem Schicksal folgen, ist Alice die Ausweglosigkeit klar vor Augen. Die meisten Tschechen sympathisieren eher mit den Nazis oder arrangieren sich mit ihnen, als auch nur einen Gedanken an das Schicksal der Juden zu verschwenden. Die meisten bereichern sich schamlos an ihnen und nutzen deren Rechtlosigkeit aus.

Schließlich werden auch die letzten Juden, mit ihnen die Familie Herz-Sommer, nach Theresienstadt deportiert, die Selbstverwaltung, in der Leopold mitarbeitete, aufgelöst. Die schwerste Zeit im Leben von Alice beginnt. Nur ihr unbändiger Wille, ihren Sohn zu schützen, und ihre täglichen Klavierübungen halten sie auch in diesem schrecklichen Ghetto am Leben. Sie verliert nicht ihre Hoffnung und ihre positive Lebenshaltung. Die Nazis täuschen Normalität in Theresienstadt vor und Alice kann immer mehr Konzerte geben. Die einzigartige Pianistin überlebt nur dank ihrer Musik. Doch die andauernden Transporte in die Vernichtungslager der Nazis hängen wie ein Damoklesschwert über ihr, Stephan und Leopold. Ende 1944 hat dann Leopold die Deportationsverfügung in den Händen. Der gemeinsame Lebensweg von Alice, Stephan und Leopold endet abrupt.

Reinhard Piechocki legt hier, mit der Unterstützung von Melissa Müller, die Biografie von Alice Herz-Sommer vor. Die alte Dame lebt auch im Jahre 2006 noch in London, spielt Klavier und blickt optimistisch in die Zukunft. Jahrelange Gespräche, eine innige Freundschaft und die Befragung unzähliger Zeitzeugen ihres Lebens hat Reinhard Piechocki zu diesem Projekt geführt. Dank seiner Kenntnis über Leben und Werk Chopins gelingt es Piechocki, zahllose Anmerkungen über die musikalische Seite von Alice Herz-Sommers Klavierkarriere beizusteuren.
Das Ergebnis ist ein minutiöser Bericht über ein hundertjähriges Leben voller Glück und äußerer Umstände, die nie den Kern von Alice Herz-Sommer zerstören konnten. Die ungewöhnliche Zielstrebigkeit, der extreme Fleiß, der Optimismus dieser Frau und die Fülle der schicksalhaften Wendungen, die ihr Leben nahm, werden deutlich.
Doch das Hauptaugenmerk liegt immer auf der Musik, den jeweiligen Konzerten, der Partitur, die sie gerade favorisiert, den Etüden von Chopin, die ihr Leben mitbestimmen sollten. Mehr als die Hälfte dieses Buches widmet sich allein der Musik, dem Lebensinhalt und der Stütze dieser einzigartigen Frau. Leider treten Gefühle, Emotionen, Beweggründe dahinter etwas in den Hintergrund. Neben den Ereignissen selber, zahlreichen Beispielen, unzähligen Daten und Fakten, bleiben die Menschen um sie herum seltsam unnahbar und eindimensional. Auch Alice selbst besteht nur aus den oben geschilderten Überzeugungen. Was sie wirklich bewegte, was sie wollte und was sie dachte, ist nie Gegenstand der Betrachtungen. Der sehr distanzierte Stil des Autoren Piechocki lässt die Personen ein wenig starr erscheinen. Ihr Lebenslauf wird deutlich, nicht aber ihr tägliches Leben. Der zentrale Gedanke, der Schutz der Mutter für ihren Sohn und dies einzig mit Hilfe der Musik, überstrahlt jeden anderen Charakterzug, lässt alle anderen Gründe ihres Daseins verschwinden. Ihre Trauer, ihre Verzweiflung, ihr Innerstes bleibt dem Leser weitgehend verschlossen.
Ebenso wird das Prag ihrer Jugend einzig aus dem Blickwinkel des Musikliebhabers gesehen, Personen betreten die Bühne und treten wieder ab. Sogar die Zeit in Theresienstadt pendelt zwischen Daten und Fakten der Vernichtungsmaschinerie und Konzerten, zwischen der Mutter-Kind-Beziehung und der Liebe zur Musik. Das Ausmaß dieser geschichtlichen Schande wird nicht deutlich. Auch die schreckliche Zeit danach, in einem Prag der Kollaborateure, der Mitläufer und der Judenhasser, die siebenundzwanzig Jahre in Israel, die Zeit in London, sind reine Daten. Das Leben von Alice Herz-Sommer kommt darin nur sehr kurz vor.

Fazit: Dieses Buch ist ein Bericht. Ein langer, von Musik geprägter und unzählige Daten und Fakten einbringender Bericht eines hundertjährigen Lebens. Einzig geprägt von Musik und der Sorge und Liebe um den Sohn. Eine wirkliche Biografie, ein Kaleidoskop der Emotionen und Gefühle, der Gedanken und Triebe ist es nur in Ansätzen.
Wer diese Zeit, dieses Jahrhundert aus der Sicht der Musik und im Blick auf den Werdegang dieser einzigartigen Frau miterleben will, findet in diesem Buch einen zuverlässigen Chronisten. Ein mitreißendes Buch über ein Schicksal ist es leider nicht geworden.

Stefan Erlemann



Hardcover | Erschienen: 1. September 2006 | ISBN: 3426273896 | Preis: 19,90 Euro | 368 Seiten | Sprache: Deutsch

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